Respekt und Liebe
Gastbeitrag von John Shand
[Dieser Artikel im englischen Original]
1.
Es wird oft als selbstverständlich angesehen, dass Liebe, wo sie existiert, ein primäres Merkmal der Beziehung zwischen Menschen ist. Keine weiteren Eigenschaften oder Bedingungen müssen in der gesamten Beziehung vorhanden sein, damit gesagt werden kann, dass die Beziehung eine der Liebe ist. Dieser Aufsatz wird diese Behauptung bestreiten. Ich werde argumentieren, dass Respekt eine notwendige Bedingung für Liebe ist. Zuerst Respekt, dann Liebe. Der Aufsatz befasst sich ausschließlich mit der Beziehung zwischen Erwachsenen.
Dies ist ein Aufsatz der philosophischen Begriffspsychologie. Das heißt, er befasst sich damit, was logisch aus der Bedeutung bestimmter Begriffe folgt. Es handelt sich nicht um eine empirische Betrachtung der Liebe, die die Suche nach faktischen Belegen in der Welt beinhalten würde.
Unter Liebe wird hier die Haltung verstanden, bei der Gedanken und Handlungen dazu führen, jemanden in hohem Maße wertzuschätzen und für ihn zu sorgen, und zwar über das hinaus, was normalerweise für die Art und Weise gelten würde, wie man einen anderen Menschen betrachtet und behandelt. Es geht nicht um sexuell-romantische Liebe – obwohl auch hierfür aus dem Gesagten Überlegungen gezogen werden können –, sondern vielmehr um eine reife Liebe, die frei von solchen Erwägungen ist.
2.
Zunächst einmal sprechen wir nicht von bedingungsloser Liebe. Definitionsgemäß erfordert bedingungslose Liebe keine Bedingungen. Man liebt jemanden, egal was passiert, und damit hat es sich. Dies wird oft als ein Ideal der Liebe angesehen, als etwas Seltenes und Kostbares. Bedingungslose Liebe sollte jedoch bestenfalls nicht als ein Höhepunkt der Liebe auf einer gleitenden Skala von Liebesgraden betrachtet werden, sondern als eine gänzlich andere Art von Beziehung als die bedingte Liebe. Bedingungslose Liebe ist die Art von Liebe, die am offensichtlichsten zwischen Eltern und Kind bestehen kann. Solche Liebe kann sich je nach Charakter der liebenden Person auf verschiedene Weisen manifestieren. Die Liebe ist unabhängig von den guten und schlechten Eigenschaften der geliebten Person vorhanden, was nicht bedeutet, dass man sich dieser Eigenschaften nicht bewusst sein kann. Sie ist, wenn man so will, unerschütterlich. Dies mag, wie wir anmerken können, erklären, warum wir, wenn unsere Eltern sterben und wir zu Waisen werden, einen so großen Verlust und ein gewisses Maß an Unsicherheit empfinden, ein Gefühl, als würde uns der feste Boden unter den Füßen weggezogen. Bedingungslose Liebe erfordert nicht, oder sollte nicht erfordern, dass man ein Sklave der anderen Person ist und ihre Gebote, was sie will, absolut erfüllt, sondern vielmehr, dass man niemals aufgibt, das Beste für sie zu wollen, unabhängig davon, was sie sagt und tut. Man nimmt ihre Bedürfnisse ernst, selbst wenn das nicht unbedingt das ist, was diese Person will. Solche Liebe kann sich auf allerlei Weisen manifestieren und kann eine breite Palette von Verbindungen zu einer Person beinhalten, aber sie ist immer da.
Bedingungslose Liebe sollte jedoch am besten nicht als ein Höhepunkt der Liebe auf einer gleitenden Skala von Liebesgraden betrachtet werden, sondern als eine andere Art von Beziehung als die bedingte Liebe.
3.
Nein, was uns hier beschäftigt, ist die bedingte Liebe.
Manche behaupten, dass sie in gewissem Sinne die einzig wahre Liebe ist, gerade weil ihr Wert daraus entsteht, dass sie frei und aus freien Stücken gegeben wird. Aber hier gibt es ein Paradox. Wenn jemand sagt, er liebe jemanden, möchte der Geliebte sich dieser Liebe sicher und nicht von einer Liste von Wenn und Aber geplagt sein, so dass die Liebe aufhört, wenn diese nicht erfüllt werden oder nicht mehr zutreffen. Wenn die Liebe andererseits aber eine bedingungslose ist, könnte man sich fragen, worin ihr Wert liegt, denn ihre Anwesenheit leitet sich nicht aus einem Akt der Wahl ab, der auf den eigenen Eigenschaften beruht, sondern ist vielmehr ein unüberlegter Reflex. Wir wollen, dass die Liebe ein Ergebnis der Art von Person ist, die wir sind, und doch wollen wir, dass sie bedingungslos ist und nicht davon abhängt, dass diese Eigenschaften — die uns zu der Person machen, die wir sind — dieselben bleiben. Die Liebe wandelt sich nicht, wo sie Wandel findet‘.1 Dieses scheinbare Paradox wird von Jean-Paul Sartre gut untersucht, wo er es zusammenfasst, indem er über den Geliebten sagt: ‚Er will von einer Freiheit geliebt werden, fordert aber, daß diese Freiheit als Freiheit nicht mehr frei sei.‘.2 Dies ist jedoch eine andere Diskussion als die hiesige und wird daher vorerst beiseite gelassen.
4.
Nun mag es verschiedene Bedingungen geben, die für die Liebe zu jemandem gelten, sowohl negative als auch positive. Es könnte sein, dass man unfähig ist, jemanden zu lieben, der einem gegenüber irgendein Maß an Gewalt oder Aggression gezeigt hat. Man mag es leicht finden, jemanden zu lieben, der witzig ist, und schwer, jemanden zu lieben, der langweilig ist. Man mag es besonders schwer finden, jemanden zu lieben oder weiterhin zu lieben, der am Ende keine Fürsorge oder kein Interesse an einem zu zeigen scheint. Selbst in Fällen unerwiderter Liebe mag die liebende Person glauben, dass die andere Person sie liebt, auch wenn sie keine Anzeichen dafür zeigt, vielleicht sogar das Gegenteil. Liebe kann einen für die wahre Natur des Geliebten blind machen und ein Bild von ihm heraufbeschwören, das der Realität tatsächlich nicht entspricht.
Es ist äußerst schwierig, allgemeingültige Bedingungen festzulegen, die Liebe hervorrufen oder verhindern.3 Das liegt zum Teil daran, dass Liebe, wie ein sinnerfülltes Leben, zutiefst vom besonderen Charakter und den Empfindungen des Individuums bis in die feinsten Details und Nuancen bestimmt wird.4 Wir können also die Betrachtung verschiedener Bedingungen für bedingte Liebe beiseite lassen und lediglich feststellen, dass es Bedingungen gibt und dass sie in ihrer Art unzählig variieren. Außer einer.
5.
Diese eine Bedingung ist Respekt. Dieser Begriff des Respekts hat Kants Kategorischen Imperativ im Mittelpunkt, nämlich jemanden niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln.5 Die Anwendung dieser Maxime des Respekts vor Personen auf die Liebe ist ein besonderer Fall einer allgemeineren, ja universellen Anwendung der Maxime, die die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür angibt, etwas als eine Person zu behandeln.
Es ist wichtig anzumerken, dass die Maxime nicht besagt, dass man jemanden nicht als Mittel behandeln sollte, sondern dass man jemanden nicht bloß (manchmal übersetzt als ‚einfach‘) als Mittel, sondern auch als Zweck behandeln sollte. Jemanden (andere) niemals als Mittel zu behandeln, würde das Leben unmöglich machen. Es würde es zum Beispiel unmöglich machen, ein Taxi zu nehmen, und darüber hinaus für den Taxifahrer, einen irgendwohin zu fahren. Was die Maxime ausschloss, ist, jemanden wie eine Sache zu behandeln, ein bloßes Mittel, ohne Rücksicht auf ihn als einen Zweck zu nehmen — einen Zweck, der Respekt verdient.
Um jemanden wirklich als Person zu lieben, muss man ihn zuerst in dem Sinne respektieren, dass man die Person als Person wertschätzt...
Es mag zunächst seltsam erscheinen, da die Bedeutung des Begriffs ‚Respekt‘ Vorstellungen von unterwürfigem Verbeugen vor jemandem oder von ehrfürchtiger Scheu hervorrufen kann. Das ist hier nicht gemeint.
Gemeint ist eine Form des Respekts, die eine Bedingung, man könnte sagen ein begrifflicher Vorläufer, der eigentlichen Liebe ist. Um jemanden wirklich als Person zu lieben, muss man ihn zuerst in dem Sinne respektieren, dass man die Person als Person wertschätzt und nicht denkt, man könne sich rücksichtslos über ihren Willen, ihre Wünsche und Sehnsüchte hinwegsetzen. Ja wir müssen diese sogar voll berücksichtigen, auch wenn wir vielleicht nicht wissen, was sie sind. Kurz gesagt, man darf die Autonomie des Anderen als menschliches Wesen nicht missachten, sondern muss sie positiv berücksichtigen. Denn andernfalls käme es dem gleich, den Anderen wie eine Sache zu behandeln. Was auch immer man dann gegenüber der anderen Person tut, selbst wenn es ihr zugutekommt, kann nicht aus Liebe zu einer Person geschehen, denn man hat ihr nicht zuerst den Respekt gezeigt, der erforderlich ist, damit die Liebe eine Person zum Objekt hat. Man mag sagen, man kann tatsächlich eine Sache lieben. Das mag sein. Aber man würde die Sache nicht als Person lieben. Den Willen von jemandem, seine Autonomie, zu missachten, bedeutet, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür zu beseitigen, dass jemand eine Person ist, und so kann alles, was man dann gegenüber dieser Person tut, nicht auf Liebe zu ihr als Person hinauslaufen. Den Willen von jemandem zu missachten ist nicht dasselbe wie manchmal gegen seinen Willen zu handeln oder auch mit seinem Willen übereinzustimmen; es bedeutet vielmehr, ihn so zu behandeln, als hätte er überhaupt keinen Willen, keinen Willen, der beachtet werden müsste, keinen Willen, der berücksichtigt oder nicht berücksichtigt werden müsste; somit behandelt man jemanden wie eine bloße Sache. Man behandelt dann eine Person wie einen Tisch oder einen Stuhl. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass, ob man jemandem Gutes oder Schlechtes tut, man ihn gleichermaßen nicht als Person behandelt, wenn man ihn nicht in dem hier angegebenen Sinne respektiert.
Den Willen von jemandem zu missachten ist nicht dasselbe wie, manchmal gegen seinen Willen zu handeln.
Um jemanden also wirklich zu lieben, muss man ihn zuerst respektieren. Das bedeutet Respekt davor, dass er einen Willen hat, der sich in dem widerspiegelt, was er wertschätzt, und auch Respekt vor seinen Wünschen und Sehnsüchten. Wenn man nicht weiß, was diese sind, kann man sie hypothetisch respektieren, das heißt, dass man nimmt an, dass der Andere seine Wünsche und Sehnsüchte haben wird, über die man sich nicht rücksichtslos hinwegsetzen kann und die ganz spezifisch für diese Person sein können. Grob gesagt könnte man sagen, man sollte andere nicht so behandeln, als hätten sie keine Pläne. Auf diese Weise liebt man die Person als die Person, die sie ist. Liebe auf dieser Grundlage bedeutet nicht nur ein überschwängliches Ausströmen von Gefühlen gegenüber jemandem, sondern vielmehr einen Wunsch nach Fürsorge und dem Besten für diese Person, basierend auf einer Berücksichtigung dessen, was sie will und denkt, ihrer Werte und Prioritäten, nicht nur auf dem, was die Person, die sie vermeintlich liebt, will oder wünscht.
Dr. John Shand ist Gastwissenschaftler (Visiting Fellow) für Philosophie an der Open University. Er studierte Philosophie an der University of Manchester und am King’s College, University of Cambridge. Er hat in Cambridge, Manchester und an der Open University gelehrt. Als Autor zahlreicher Artikel, Rezensionen und herausgegebener Bücher gehören zu seinen eigenen Büchern Arguing Well (London: Routledge, 2000) und Philosophy and Philosophers: An Introduction to Western Philosophy, 2. Auflage (London: Routledge, 2014).
Kontaktinformationen:
Dr John Shand, The Open University, Walton Hall, Milton Keynes, Buckinghamshire, MK7 6AA, United Kingdom.
Anmerkungen
William Shakespeare, Sonett 116. ↩
Jean-Paul Sartre, Being and Nothingness [1943] (Übers. Hazel Barns, Einl. Mary Warnock, Methuen & Co Ltd, 1977, Kapitel Drei, ‘Concrete Relations With Others’, § I ‘First Attitudes Towards Others: Love, Language, Masochism’, S. 367. [Die deutsche Standardübersetzung des Zitats lautet: ‚Er will von einer Freiheit geliebt werden, fordert aber, daß diese Freiheit als Freiheit nicht mehr frei sei.‘ Aus: Das Sein und das Nichts]). ↩
Siehe das Gedicht von Kingsley Amis, ‘Three Scenarios: I -- Reasons’. Collected Poems 1944-1979 (Hutchinson & Co, 1979) S. 126-127. ↩
Siehe John Shand, ‘No such thing as the good-life: A critique and plea for ignorance’, Journal of Philosophy of Life Vol.8, No.2 (Juli 2018): 48-64 und ‘A Meaningful Life’, in Human Affairs, Band 29, Ausgabe 4 (Okt 2019). ↩
Dies ist die zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs als Achtung vor der Würde der Person. Kants Kategorischer Imperativ, verstanden durch die Zweck-an-sich-Formel oder die Achtung vor der Würde der Person, lautet: ‚Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.’ [’Act so that you treat humanity, whether in your own person or in the person of any other, always as an end and never merely as a means’.] Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Zweiter Abschnitt, AA 4:429. 9-12. Es wird manchmal behauptet, dass Kants Kategorischer Imperativ ‚leer‘ sei, insofern man aus ihm keine spezifischen Pflichten ableiten oder Maximen als unzulässig verbieten könne. Dass dies ein Fehler ist, habe ich an anderer Stelle argumentiert. Siehe, ‘Kant, Respect, and Hypothetical Acts’, in Philosophy Band 90, Ausgabe 03, Juli 2015, S. 505-518. ↩




